Es ist Mitten in der Nacht, als plötzlich das ohrenbetäubende Geräusch einer Detonation erklingt. Sirenen beginnen zu heulen und fordern Menschen in Kriegsgebieten dazu auf, sich in Sicherheit zu bringen. Schlagartig rast der Puls in die Höhe, das Herz schlägt bis zum Hals, während die Angst, sein Leben zu verlieren, zum alles beherrschendem Gefühl wird. Nur noch von Panik getrieben versucht man sich zu retten. Wählt man jetzt den falschen Weg, kann es für immer vorbei sein. Doch woher soll man wissen, welcher der Richtige ist? Die Bomben können überall einschlagen …
Was hat ein solches Szenario mit Alkoholsucht zu tun, werden sich jetzt vielleicht einige Leser fragen. Die Antwort möchte ich in diesem Artikel geben, wobei statt Alkohol auch die Abhängigkeit zu anderen Drogen denkbar ist.
Wer sich im Krieg befindet, ist einer unberechenbaren Situation ausgesetzt. Hinter jeder Ecke lauert Gefahr, die einem vielleicht das Leben kosten könnte oder andere grausame Erfahrungen bereithält. Körper und Seele befinden sich in einer dauerhaften Anspannung. Kinder, die in Familien groß werden, in denen ein oder im schlimmsten Fall beide Elternteile schwer alkoholabhängig sind, erfahren genau solche Zustände, wie eben beschrieben. Sie sind in ständiger Alarmbereitschaft, weil auch sie einer unberechenbaren Situation ausgeliefert sind, die eine Bedrohung darstellt. Auch in ihnen herrscht das Gefühl vor, ihr Leben beschützen zu müssen. Je jünger die Kinder sind, desto bedrohlicher erscheint es für sie, sodass sie tatsächlich um ihr Leben fürchten, denn es ist nicht einzuschätzen, wie der betrunkene Elternteil reagiert.
In der Nacht sind es nicht die Sirenen, die sie angstvoll aus dem Schlaf reißen, sondern die Schreiarien alkoholisierter Eltern, die nicht mehr wissen, was sie tun. Es ist nicht die Bombe, die plötzlich in ihrem Zimmer explodiert, es sind Vater oder Mutter, die sturzbetrunken in den Raum torkeln und ihre unkontrollierten Gefühle an den Kindern auslassen. Sie sind Beschimpfungen, Zusammenbrüchen, Gewalt, sexuellen Übergriffen oder anderen Formen der Erniedrigung schutzlos ausgeliefert, die einen massiven Schaden bei den Kindern hinterlassen, der noch bis ins Erwachsenenalter nachwirkt.
Anstatt Wertschätzung, die für die gesunde Entwicklung eines Kindes unerlässlich ist, erfahren diese Kinder das Gegenteil: Wertlosigkeit. Um den Belastungen standzuhalten, beginnt die Seele sich zu schützen. Sie baut eine Schutzmauer auf, die das innere Überleben der Kinder sicherstellt. Mit dieser Schutzmauer haben Erwachsene später dann oftmals zu kämpfen, weil sie nach wie vor ihre Funktion erfüllt. Sie lassen niemanden an sich heran und wittern überall Gefahr.
Als Kind war das überlebenswichtig, da sie immer einschätzen mussten, wie die Lage zu Hause ist. Sie haben ein unglaubliches Feingefühl für Emotionen entwickelt und können sich innerhalb weniger Minuten auf ihr Gegenüber einstellen. Ihr wahres Ich liegt verborgen hinter Schutzmauern. Sie sind das Kind, womit die Eltern am besten umgehen können oder manche kehren all ihre Wut und Hass nach außen, wodurch sie als schwer erziehbar eingestuft werden.
Die Posttraumatische Belastungsstörung
Noch vor knapp 20 Jahren vertraten die meisten Experten die Meinung, dass Kinder davon nichts oder kaum etwas mitbekommen. Ihre kognitiven und psychischen Strukturen seien noch nicht ausgereift, um zu reflektieren und das Geschehene in all seinen Dimensionen bewusst zu begreifen. Auch nahm man an, dass sich nach den meisten traumatischen Ereignissen keine oder nur minimale und vorübergehende Störungen entwickelten. Erst mit der Einführung des DSM-III-R (1988) erkannte die Fachwelt posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) auch bei Kindern an und musste sich mittlerweile eingestehen, dass das Ausmaß psychischer Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter bislang unterschätzt wurde. Wie aktuelle Untersuchungen an traumatisierten Kindern zeigen, erfüllt teilweise über die Hälfte die Bedingungen für eine PTBS-Diagnose.
Emotionale Taubheit gehört zu den klassischen Symptomen
Heute weiß man, dass Kinder schon vom ersten Lebensjahr an psychische Erkrankungen infolge von stresshaften Erfahrungen entwickeln können. Zu den häufigsten Ursachen posttraumatischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zählen körperliche und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung, Unfälle, Naturkatastrophen und lebensbedrohliche Krankheiten. Die Symptome können je nach Alter und Individuum erheblich variieren und sich von den Symptomen bei Erwachsenen unterscheiden. Zu den klassischen Traumasymptomen bei Kindern und Jugendlichen zählen emotionale Taubheit, autonome Übererregung und Wiedererleben.
Emotionale Taubheit zeigt sich durch Entfremdungsgefühle, Emotionslosigkeit und vermindertes Interesse an zuvor bedeutsamen Dingen. Die Wahrnehmung der Zukunft ist unvollständig beziehungsweise verkürzt. Die Kinder glauben zum Beispiel nicht mehr daran, jemals die Schule zu beenden oder erwachsen zu werden. Hinzu kommen übermäßige Sorgen um Familie und Freunde, regressives Verhalten und der Verlust von erworbenen Fertigkeiten.
Eine erhöhte autonome Erregung führt zu Übermäßiger Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Aggressivität. Es stellen sich Schlaf-, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten ein. Bestehende Leistungsstörungen werden verstärkt, Schulleistungen lassen nach.
Das Wiedererleben des traumatischen Geschehens im Wachen oder Schlafen (Intrusionen) oder die Konfrontation mit traumaassoziierten Dingen, Personen oder Situationen kann sehr belasten. Sie können das Gefühl hervorrufen, das Trauma wieder zu durchleben. Typische Reaktionen sind starkes Klammern an die Bezugspersonen, auffällige Aggressivität, Angst vor Dunkelheit oder dem Alleinsein und häufige Bauch- oder Kopfschmerzen.Quelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/65894/Posttraumatische-Belastungsstoerung-Ausmass-bei-Kindern-unterschaetzt
Das Entwicklungstrauma
Die ganze Thematik ist natürlich wesentlicher komplexer und viel tiefgreifender, als ich hier jetzt aufführe. Zudem geht jeder Mensch anders mit belastenden Erfahrungen um. Was für den einen überaus leidvoll war, ist für den anderen in einer ähnlichen Situation vielleicht weniger schmerzvoll. Es müssen sich nicht zwangsweise Störungen entwickeln, weil man in einer Familie groß wurde, in der Alkoholabhängigkeit eine Rolle spielte. Aber man sollte wissen, welche Auswirkungen es möglicherweise auf das eigene Selbstbild und Leben haben könnte. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern etliche Nuance dazwischen. Doch viele Erfahrungsberichte Betroffener, die unter den geschilderten Umständen groß wurden, gleichen sich. Sie alle erlebten eine Kindheit, die von Angst, Hass, Verzweiflung und viel Leid geprägt war, was Auswirkung auf ihr späteres Leben hat.
In diesem Artikel habe ich über die negativen Auswirkungen geschrieben, aber viele der Schutzmechanismen lassen sich im späteren Leben auch zu wertvollen Stärken umwandeln. Dem Thema widme ich noch einmal einen gesonderten Artikel. Diesen möchte ich mit einem Absatz aus „Wenn der Himmel dich verlässt“ beenden:
„Aus Kindern, die viel erlitten haben, können sich die stärksten und wertvollsten Menschen entwickeln, denn sie wissen, was es wirklich heißt zu kämpfen. Nutze deine Stärke, die in dir ist, nicht länger gegen, sondern für dich. Nicht du bist schwach, es sind die, die dieses schreckliche Leid über dich gebracht haben.“
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