Freitag, 8. November 2019

Wenn der Himmel dich verlässt – ab jetzt bei Amazon erhältlich!

Heute ist das E-Book meines Romans bei Amazon erschienen. Das Taschenbuch wird demnächst erhältlich sein und kann dann über den Buchhandel oder auch diversen Onlineshops bestellt werden.

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Hier noch eine Leseprobe:


Jack

Heute Morgen bin ich dem Himmel nah. Er ist mein wahres Zuhause, darum fühle ich mich an dem Ort, hier oben, hoch auf dem Dach, am wohlsten. Die letzten Sterne der Nacht verblassen und nehmen dem Himmel seinen glitzernden Glanz. Still und leise verschwinden sie, hauchen ihren Zauber aus, während wir zu ihnen emporsehen, dabei träumen, wünschen und auf magische Momente im Leben hoffen. 
Laut Astronomie sind Sterne weit entfernte Sonnen, die aus Gas und Plasma bestehen. Das glaube ich aber nicht. Sterne sind tote Seelen, die in der Nacht über uns am dunklen Himmel wachen. Ich schaue zu ihnen hinauf und denke, wie schön sie sind, all die gelebten Leben. Jede Seele, die Gutes für die Welt oder andere Menschen tat, wird dort oben, an dem magischen Firmament, das sich Himmel nennt, einen Platz bekommen. Alle anderen, verlorenen Seelen, die nichts vollbringen und Schlechtes tun, lösen sich in der Unendlichkeit des Universums auf. Sie leisten keinen Beitrag für das Leben, also sind sie überflüssig. 
Ich fürchte nicht mehr viel, aber ich habe wirklich Angst, keinen Platz dort oben zu bekommen. Mein größter Wunsch ist es, in vier Tagen als funkelnder Stern aufzugehen. Die Menschen sollen zu mir heraufschauen und denken, welch wunderschöner Stern ich doch geworden bin. Wenigstens einmal soll meine Seele Anerkennung bekommen. 
Leider weiß ich auch, dass die Chancen dafür ziemlich schlecht stehen, denn ich gehöre zu den verlorenen Seelen, die nichts vorweisen können, um einen dieser Ehrenplätze am Himmel zu erhalten. Vier Tage bleiben mir noch, in denen ich eine herausragende Tat vollbringen kann. Siebzehn Jahre habe ich das nicht geschafft, wie soll es mir dann in vier Tagen gelingen? Mich selbst zu motivieren zählt nicht gerade zu meinen größten Stärken. Sonst würde ich wohl auch nicht auf der Kante eines fünfzehn Stockwerke hohen Hochhauses sitzen und mir Gedanken über meinen Tod machen. Dann würde ich mir sagen: »Hey, Jack, du hast jetzt siebzehn Jahre überstanden, die nächsten siebzig kriegst du auch noch rum. Es kann ja nur besser werden.« 
Im Selbstbetrug bin ich ebenfalls eine Niete. Ich weiß, dass nichts besser wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen besitze ich die Fähigkeit, ehrlich zu mir selbst zu sein. Wieso sollte ich mir etwas vormachen? Damit ich mich weiter durchs Leben quäle? Ich habe auf dieser Welt keine Chance, dafür haben meine Eltern gesorgt. Viele würden jetzt sagen, aber du bist doch erst siebzehn, alles kann sich noch ändern. Wie sollte es das, wenn die Seele zerstört ist? Was einmal kaputt ist, kann nie wieder heil werden. Wir können kleben, versuchen, Schäden auf alle mögliche Arten zu reparieren. Irgendwie hält es vielleicht wieder, aber kaputt ist kaputt. Meine Seele begleitet mich bis ans Lebensende und wird mich jeden Tag aufs Neue ihren Schmerz spüren lassen, weil sie nicht vergisst. Wo das endet, sehe ich an meiner Mutter. Sie versucht den ganzen Tag nichts anderes, als diesen Schmerz irgendwie zu betäuben. Das ist kein Leben mehr. Es ist ein schleichender, jahrzehntelanger Tod voller Qualen. Warum sollte ich mir das selber antun wollen? 
Da ich ja darum bemüht bin, gute Taten zu vollbringen, gab ich meiner Mutter also gestern einen Ratschlag, obwohl sie meine Hilfe nicht verdient. Ich riet ihr, das Geld vom Amt am Monatsbeginn endlich mal sinnvoll durchzubringen, indem sie sich eine Überdosis Crack kauft. Dann hätte sie es endlich hinter sich. Ihre Antwort war: »Verpiss dich, kleiner Wichser.« 
Daran zeigt sich, dass man nur Menschen helfen kann, die sich helfen lassen wollen. Auch wenn meine Mutter nur über ihr elendes Dasein klagt, scheint es noch nicht elendig genug zu sein. Sie hat es sich in ihrer berauschten Welt eingerichtet, raucht, snieft oder trinkt das Unglück einfach weg. Wahrscheinlich findet sie in dieser verzerrten Realität irgendwo das unechte Gefühl von Glück. Ich will nichts Unechtes, nur Wahrhaftigkeit – selbst wenn es schwer ist, sie zu ertragen.
Die letzten Sterne sind verblasst, und über den Häusern der Stadt geht die Sonne auf. Ich schaue nach unten. Es macht den Eindruck, als hätte der Himmel mit der Erde getauscht. Nebel liegt über den Straßen, der von hier oben wie eine milchige Wolkendecke aussieht. Bei der Vorstellung, wie ich die Arme ausbreite, das Gewicht nach vorn verlagere und in einem letzten freien Fall in die Tiefe stürze, beginnt mein linkes Auge zu zucken. Das tut es immer, wenn ich nervös werde. Die Gründe für dieses Nervenleiden sind nicht genau geklärt. Entweder habe ich es meinem Erzeuger zu verdanken oder der berauschten Welt meiner Mutter während der Schwangerschaft. Sie sagt immer, es liege alles nur daran, weil ich eine Frühgeburt war, wofür sie nichts konnte. Darunter hätte auch sie zu leiden gehabt, da sie nur Ärger mit mir hatte. Ständig musste meine Mutter in Kindergarten und Schule antanzen, weil ich verhaltensauffällig war. Entwicklungsverzögerungen, übermäßige Aggressivität, unfähig, mich zu konzentrieren und hyperaktiv. Irgendein Lehrer übte dann so viel Druck auf meine Mutter aus, dass sie schließlich mit mir zum Arzt ging. Der verpasste mir den Stempel ADHS. Seitdem wurde ich mit Ritalin vollgepumpt, um mich ruhigzustellen. Vor zwei Jahren warf ich meiner Mutter die Tabletten vor die Füße, mit dem Vermerk, sie solle sie selbst nehmen. Ein gutes Mittel zum Wegdröhnen. Mir ging es nämlich gelinde gesagt auf den Sack, ständig das Gefühl zu haben, nur neben mir zu stehen. Unkonzentrierte, hyperaktive, aggressive Wahrhaftigkeit, das will ich, denn das bin ich! 
Klar mag niemand einen solchen Jungen, aber mit Ritalin mochte mich auch keiner. Ich gehöre eben zu Gottes Fehlproduktionen, bei denen der Plan der Liebe nicht aufging. Das macht aber nichts, denn ich habe es begriffen. Jack Larsen sorgt nur für Ärger. Den hirnrissigen Vornamen verlieh mir meine Mutter wahrscheinlich im Vollrausch. Als ich sie danach fragte, was sie dazu getrieben hätte, mich so zu nennen, sagte sie, Jack Bauer wäre cool. Nachdem Google mir dann offenbarte, wer Jack Bauer ist, konnte ich nur fassungslos die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Mein vermeintliches Namenvorbild ist ein heroischer US-Agent einer amerikanischen Fernsehserie. Das Einzige, was wir gemeinsam haben: Uns beiden läuft die Zeit davon. Ihm 24 Stunden, in denen er den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika retten muss, und mir 4 Tage, in denen ich eine gute Tat vollbringen muss, bevor ich diese Welt verlasse.
Jedenfalls konnte ich von da an den entwürdigenden Sprüchen kontern, die meinen Namen mit Jack Dawson aus Titanic in Verbindung bringen. Da ist mir ein US-Agent um einiges lieber als ein selbstaufopfernder Teenager, der zu blöd ist, sich zu seiner Freundin auf eine treibende Tür zu retten, und es stattdessen vorzieht, im eisigen Atlantik unterzugehen. Allerdings habe ich auch mit ihm etwas gemeinsam. Ich werde ebenfalls untergehen und zwar im blutgetränkten Wasser der Badewanne. Im Gegensatz zum gespielten Tod des Hollywood-Helden, wo Millionen Menschen sich die Augen ausheulten, wird um mich niemand eine Träne vergießen. Meine Mutter bekommt sicher einen hysterischen Anfall, weil sie die Sauerei saubermachen muss. 
Ich habe den Ablauf schon genau geplant. Den linken Arm lasse ich über den Rand der Badewanne baumeln, damit das Blut aus meiner Pulsader direkt auf den Boden läuft. Den rechten tauche ich ins Wasser, um mein Leben in einem Blutbad zu beenden. Grinsend hole ich ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche, während ich gedanklich meine Mutter den Boden schrubben sehe. Das ist eine kleine Genugtuung dafür, was sie mir alles angetan hat. Als letzten Gruß darf sie meinen Dreck wegmachen.
Wieder zuckt mein Auge, als ich mir die Zigarette anzünde. Meistens nehme ich die Zuckungen nicht wahr, heute nervt es mich. Zum Glück bin ich dieses Leiden bald los. Ich nehme einen tiefen Zug, inhaliere den Rauch, solange es geht, und puste ihn dem Sonnenaufgang entgegen. Im rötlichen Schein des beginnenden Tages schlängelt sich der Qualm in geschmeidigen Bewegungen durch die Luft. Eigentlich rauche ich nicht … eigentlich … 
Ohne dieses »Eigentlich« wäre die Welt ein besserer Ort. Eigentlich wollen die Menschen keine Kriege führen, eigentlich wollen wir gesund leben, eigentlich sind wir an Gleichberechtigung interessiert, eigentlich, eigentlich, eigentlich. Darauf folgt das zweite, vernichtende Wort: aber. Aber irgendwie funktioniert nichts, was wir uns eigentlich vornehmen. In meinen letzten vier Tagen werde ich mal darauf achten, wie oft ich mit »eigentlich« in Berührung komme. Meine Mutter ist nämlich eine Meisterin des Eigentlichen. Eigentlich wollte ich aufräumen, eigentlich wollte ich nicht trinken, eigentlich wollte ich keinen Shit rauchen, eigentlich wollte ich dir neue Schuhe kaufen … Jetzt brauche ich keine neuen mehr. Die abgelatschten Turnschuhe aus dem Discounter haben mich lange durchs Leben getragen. Darum finde ich es angemessen, dass sie mich auch auf meinem letzten Gang begleiten. Genau wie ich haben sie ihre Zeit hinter sich. 
Ich nehme einen weiteren Zug von der Zigarette und lasse meinen Blick in die Ferne gleiten. Die Sonne steht nun als orange leuchtender Feuerball am Himmel. Sie löst den stillen Zauber der Nacht auf und bringt die Hektik in die Welt zurück. Unter mir fahren jetzt vermehrt Autos die Straßen entlang, Kinder schreien, Mütter schimpfen. Das normale Leben am Rande der Stadt, wo auch der Rand der Gesellschaft wohnt, geht weiter. Für viele heißt das, erneut sehen, wie sie über die Runden kommen. Es ist Monatsende, da haben die meisten kein Geld mehr. Man merkt deutlich, wie die Aggressivität in der Gegend ansteigt, weil die Seele nach Betäubung verlangt, die nicht mehr bezahlt werden kann, und der Magen nach Essen. Dann wird es auch für mich schwierig. 
Um überhaupt etwas Geld zu bekommen, sammle ich Pfandflaschen. Allerdings kriechen die alten Geier am Monatsende plötzlich alle aus ihren verkommenen Wohnungen und stecken ihre versoffenen Nasen in meine Mülleimer. Das lasse ich mir natürlich nicht bieten, darum gibt es jedes Mals aufs Neue Stress. Der alte, glatzköpfige Sack aus dem 5. Stock ist mein besonderer Feind. Pünktlich zum 28. eines Monats setzt er seinen fetten Arsch in Bewegung und sucht die Spielplätze ab, wo die meisten Flaschen zu finden sind. Mit ihm habe ich noch eine Rechnung offen, bevor ich gehe. Dieser Schweinehund hat mir eine Flasche an den Kopf geworfen. 
Mächtig kommt Wut in mir auf, als ich an den Vorfall denke. Mein Auge zuckt, und die Hände beginnen unkontrolliert zu zittern. Dadurch fällt die Zigarette in die Tiefe. Wie ich diese Zitterschübe hasse! Ich atme einige Male ruhig ein und aus. Das Zittern hört wieder auf, aber meine Wut bleibt. Sie richtet sich jetzt allerdings nicht nur gegen den Fettsack aus dem 5. Stock, sondern gegen alles. Meine Erzeuger, mein Leben, meinen scheiß Körper, mich selbst. Ich verabscheue meine Wertlosigkeit und hasse mich dafür, ein Nichts zu sein. Alle geben mir das zu verstehen, sogar der Fettsack. In der Schule bin ich immer der problematische Junge, der nichts kann und ein Freak ist, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Meiner Mutter mache ich auch nur Kummer. Im Grunde tue ich der Welt einen Gefallen, wenn ich mich endlich aus ihr zurückziehe. Dann kann ich kein Unglück mehr über die Menschen bringen oder ihnen Probleme bereiten. 

Ich zünde mir eine neue Zigarette an. Vielleicht ist die andere ja wenigstens dem Fettsack auf seine Glatze gefallen, falls er sich gerade auf den Weg macht, um meine Mülleimer zu plündern. 

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